Mensch, hör doch auf!

Es ist eine nicht ganz fair geführte Diskussion. Wer die Sucht hat, braucht für die Schuldzuweisung nicht zu sorgen. Das machen sicher schon andere. Und leider auch viele Ärzte. Auch unter Ärzten ist schon alleine die Diskussionsgrundlage nicht ganz einheitlich. Zu sehr sind Sucht und Drogen mit dem Makel des Lasterhaften belegt. Es hat beinahe eine religiöse Komponente, wenn auch unter Ärzten die „selbst schuld“-Schublade aufgeht.

Die Initiative bei der Bekämpfung einer Sucht, so eine Grundregel, muss immer vom Süchtigen ausgehen. Es geht um das Eingeständnis der Sucht. Dabei geht es aber nicht so sehr um die Beichte der Versündigung. Und eben auch nicht um eine Schuldzuweisung. Es geht viel mehr um die Erfolgsaussichten einer Therapie. Denn diese sind natürlich gering, wenn das ganze Thema vom Betroffenen nicht als ein Problem erkannt wird.

Freilich, in meinem kollegialen Umfeld habe ich es noch nicht erlebt, dass zum Beispiel einem Patienten mit einer chronischen Bronchitis die Behandlung verweigert wird, weil er nicht mit dem Rauchen aufhört. Mit dem Rauchen aufzuhören ist und bleibt bei der chronischen Bronchitis aber nun mal die ursächliche Therapie. Die "Noxe ausschalten", sagen die Ärzte. Also die Schaden bringende Substanz meiden. Es ist die Pflicht des Arztes, die wichtigste Therapiemaßnahme zu nennen. Auch wenn er wiederholt etwas äußert, was beiden Seiten bewusst ist. Und es ist auch legitim, es immer wieder zu tun. Denn hier gilt: steter Tropfen höhlt den Stein. Entscheidend ist aber das „Wie“!

„Als ihr Behandler bin ich persönlich enttäuscht, dass Sie es wieder nicht geschafft haben aufzuhören!“ ist sicher keine Formulierung, die irgendein Arzt direkt verwenden würde. Bei erstaunlich vielen aber scheint die Quintessenz der Botschaft dessen, was sie zu diesem Thema vorbringen, keine andere zu sein. 

Wer nun glaubt, dass Strenge und Autorität in diesem Bereich hilfreich sind, der muss enttäuscht werden. Hierzu gibt es Studien, die zeigen, dass zwar das wiederholte, aber eben ermunternde Angebot bei dem Weg in die Rauchfreiheit wesentlich nützlicher ist. (Studie) Zu benennen, was sich verbessert, wenn man es schafft, nützt mehr, als ständig zu hören, was alles schief gehen kann. Verbesserung der Gesundheit oder ihr Erhalt sind doch die eigentlichen Ziele einer ärztlichen Behandlung. Probleme benennen ist erlaubt, Drehbücher für Katastrophenfilme schreiben hat aber nichts mit seriöser Beratung zu tun. 

Nicht jeder Mensch ist hier aber gleich „anzupacken“. Als Arzt muss man natürlich in der Problembenennung auch nicht immer auf Samtpfoten um den Patient herumschleichen. Dennoch, es geht eben um einen respektvollen Umgang, wenn Menschen mit ihren „Schwächen“ konfrontiert werden.

 

Bei der "Fettsucht" (Adipositas) verhält es sich ein kleines wenig anders, als bei anderen Süchten. Denn schließlich müssen wir alle essen! Und eine "positive Energiebilanz durch übermäßige Kalorienzufuhr" bleibt nun mal die häufigste Ursache für die Adipositas. Doch unsere genetische Ausstattung, was Signalgebung und Feedback im Bereich Nahrungsaufnahme, Sättigung und Belohnungssystem unseres Körpers angeht, ist nun mal sehr unterschiedlich ausgeprägt. Welche Stoffe hier in unserem Körper Tango tanzen und welche genetischen Grundlagen hier eine Rolle spielen, haben zahlreiche Studien untersucht. (Studie) (Studie) Wenn man jetzt zusätzlich die Präsenz „hochenergetischer“ Lebensmittel um uns herum anmerkt, ist nämlich der Kampf kein ganz gerechter. Das „Hineingeraten“ in die "Sucht Essen" ist - durch die Notwendigkeit der Nahrungszufuhr auf der einen und die Verfügbarkeit dessen, was unser nach Belohnung heischender Körper willfährig annimmt auf der anderen Seite - in manchen Fällen fast vorprogrammiert. Sicher, die Formel ist ja ganz einfach, möchte man sagen. Weniger Energie aufnehmen, als ich verbrauche, und ich nehme ab. Sicher kommt es auch darauf an, was wir vorgelebt bekommen, welche Ernährungsweise wir als normal in unserer Erziehung erlernen. Auf der anderen Seite gab es aber vor 60 Jahren auch sicher noch nicht diese Flut an verarbeiteten und - nicht immer zum besten - ergänzten Lebensmitteln.

Hieraus lässt sich auch die Grundidee eines Ampelsystems zur Kennzeichnung verstehen. Die einfache Kennzeichnung hat als Idee hier auch nicht etwas mit Bevormundung zu tun. Zu weitreichend sind die Zutatenlisten der verarbeiteten Lebensmittel inzwischen geworden, als dass man hier von jedem den Durchblick erwarten kann. Doch gibt es auch genügend Beispiele, in denen das Ampelsystem aufgrund des reinen Vergleichs in der Produktgruppe versagt. "Plakate" standen noch nie für den differenzierten Umgang mit einer Sache. Die plakativste Grundregel der Ernährung kann man aber wohl nicht oft genug betonen: am unbedenklichsten und ohne Deckmantel daher kommt natürlich immer das noch nicht verarbeitete Grundprodukt.

Obwohl auch genetische Determinanten in Bezug auf Übergewicht und Fettleibigkeit schon gut untersucht sind. Und obwohl auch unsere Lebensmittelindustrie keine ganz blütenweiße Weste in dem Thema hat: es gibt kaum einen gesundheitlichen Bereich, bei dem die Schuldzuweisung so direkt erfolgt, wie bei der Fettleibigkeit! Es ist doch einfach: dann soll er/sie halt nicht so viel essen! Und wer es nicht packt, ist selber Schuld!? Stopp!! Zu kurz gegriffen.

Auch hier gilt für Ärzte, dass sie ermutigend und respektvoll immer wieder einen gemeinsamen Weg anbieten sollen. Und zwar immer und immer und immer wieder!

Wie wir in eine Sucht hineingeraten, ist sehr individuell. Und es ist multikausal. Das heißt, es ist nicht immer nur alleine das Umfeld. Oder die Kindheit. Oder die Erziehung. Oder was auch immer. Es spielt zum Beispiel auch persönliche Resilienz eine Rolle, also was ich bestimmten Lebensumständen entgegenzusetzen habe. Und am Ende, und hier wird es sehr unfair, spielen wie oben erwähnt auch genetische Komponenten eine Rolle. Und zwar für alle Süchte! (Studie)

Aber Vorsicht! Der Hinweis auf genetische Komponenten ist ja nicht die Freisprechung von der Eigenverantwortung. Nach dem Motto: kann ich nix für, Prost! Nein, aber die Betrachtung der Multikausalität und der darin aufgehenden erblichen Aspekte sollte für die Profis in diesem Spiel eine Aufforderung enthalten: Ärzte sollten sich um ein respektvolles und ermutigendes Vorgehen bei der Bekämpfung von Sucht bemühen.